Eins wollen wir mal gleich von vorneherein festhalten: Ja, man muss ein wenig verrückt sein, wenn man sich an ein solches Projekt traut. Weit verrückt vielleicht sogar, weit weg von dem, was Mitte und damit Durchschnitt ist.
Vor allem, wenn man bedenkt, dass einer von vier Partnern sich derzeit in Insolvenz befindet – sich aber davon augenscheinlich nicht unterkriegen lässt. Zwei sind gestandene Häuser aus der Ersten Drucker-bundesliga, denen hoffentlich dieses Schicksal auf ewig erspart bleiben möge. Um was es geht, reklektiert man je nach mentalem Vorurteil entweder als „na und? – wo ist der Gag?“ oder „unglaublich! – Wer hat sich das denn ausgedacht?“. Diese Frage wird leider im Produkt, um das es geht, nicht beantwortet. Aber bei den überzeugenden Resultaten scheint es wieder mal so, dass Erfolge stets viele Väter haben.
Die Papierfabrik Scheufelen ist seit langen Zeiten für ihre Kalender bekannt, im positiven Sinne berühmt-berüchtigt. Nun hat sie zwei Drucker im Boot gehabt, die als Unternehmen wie auch von den führenden und inhaberischen Köpfen her wahrhaft mit Leib und Seele Drucker sind: Druckerei und Verlag Hermann Schmidt, Mainz, und Eberl Grafische Betriebe, Immenstadt/Allgäu. Und als kreative Keimzelle Strichpunkt, Agentur für visuelle Kommunikation, Stuttart.
Je nun, ein Kalender halt … ! ???
Kalender haben normalerweise eine nützliche, sachlich definierte Funktion: sie orientieren den Betrachter über die Ordnung der Tage während eines Jahres. Aber dank intensiver Volksbildung ist inzwischen vielen Menschen auch ohne visuelle Hilfsmittel klar, dass dem ersten der zweite Januar folgt, diesem der dritte und so weiter. Und dem Januar der Februar, dem Februar der März – bis halt das Jahr um ist. Die Knöchel der Hand helfen, das Durcheinander der unterschiedlich langen Monate zu ordnen. Wer daran scheitert, dem stehen diverse Standardprogramme im Computer zur Verfügung, das Leben – geschäftlich wie privat – nach Stunden und Tagen zu ordnen.
Also haben Kalender, gedruckte, heute eine andere Funktion. Sie trans-portieren irgendwie „Kunst“. Egal welche, Hauptsache Kunst. Bildkunst. Oder Grafik. Selbstgemachte Kunst (von Klein-Johannes für Oma zum Einkleben oder ein Template zum Hochladen bei der Website des Dis-counters samt bald eintrudelndem Digitaldruck) oder eben auch Druck-Kunst.
Gleichwohl sich in diesem Falle der Gag möglicherweise auf natürliche Art und Weise in Luft auflöst und die Frage hinterlässt: Ja, was wollten uns die Künstler eigentlich damit sagen? Die Geschichte ist nämlich so, und da zitiert man, damit es nicht noch komplizierter wird, am besten den offiziellen Text:
Jedes einzelne Kalenderblatt wurde zum Unikat durch die Kom-bination der fünf Druck- und Veredelungsdurchgänge sowie durch permanentes Umstapeln der Papierbogen. Also so, wie jedes sin-guläre Poker- oder Skatspiel ein Unikat ist. Auch durch Umstapeln der Karten (und manchmal Austausch der Asse im Ärmel). Aus diversen Motiven, Farben, Papiersorten und druck- wie vere-delungstechnischer Behandlung entstanden in 80 Druck- und 160 Stapelstunden 24.108 Blätter für 2.009 Kalender für das Jahr 2009 (ein Schelm, wer Absicht bei der krummen Auflage vermutet). Ein jedes Blatt ein Unikat, der Kalender so gesehen ein zwöffaches Unikat (hätte nie gedacht, dass es mehrfache Unikate geben kann!).
Nun besitzt aber jeder Besitzer im Regelfall nur einen Kalender – sein Unikat. Der Unterschied zum Massenkalender findet also im Kopf statt und nicht an der Wand. Denn dort hängt auch immer nur einer, das Kauf-Unikat aus der Massen-Großauflage. Und damit: willkommen in der Luxusklasse. Willkommen im Dilemma. Willkommen in der Pein.
Halt! Hier! Hergucken!
Jetzt muss ich jeden, der mein Büro betritt, erklären, schau her, das ist ein Unikat. Ich freue mich jetzt schon auf die Gesichter: „Aha, …. ein …, aha!“. Womit man dann das Thema Wetter und „wie geht‘s“ automatisch übersprungen hätte und gleich zur Sache kommen kann. Ja, ich habe ein Unikat – und nun?
Muss ich jetzt dem Club der Unikatsbesitzer beitreten, in dem wir uns re-gelmäßig treffen, um uns die Unikate zu zeigen, sie zu vergleichen und den Preis für das schönste Unikat ausloben?
Oder müssen wir jetzt durch die Gegend rennen und jedem erzählen: da gibt es eine dolle Agentur, einen unglaublich innovativ-soliden Papierhersteller, zwei Super-Spitzen-Qualitäts-Druckereien, die haben einen völlig verrückten Kalender gemacht. Wen interessiert das?
Wir befinden uns mitten im Dilemma der Kunst. Der zweckfreien Kunst. Die einerseits nach Anerkennung giert (Applaus ist das Brot der Künstler) – die beachtet werden will, um ihrer eigenen Eitelkeit willen und vor allem, weil sie es verdient hat. Und die doch nur für den Kunst ist, der sie zu einer solchen erklärt. Auch ein Blatt von den größten der aller Maler und Grafiker kann Gekritzel und Gekleckse bleiben, wenn ich – ich ganz persönlich, mein innerstes Persönlichkeits-Ich – nicht mir – und nur mir ! – sagt: siehe, es ist Kunst.
Siehe, es sind Kunst-Drucke. Unikate Kunst-Drucke. Die Motive sind sogar sehr dazu angetan, sich darüber zu streiten. Aber über Kunst streitet man nicht. Kunst genießt man, still und alleine, oder harmonisch unter Kunstfreunden (wohlgemerkt: das sind keine künstlichen Freunde, sondern natürlich Freunde) und erfreut sich gleichklingen, -schwingender Seelen.
Auch in der Not baute man Kathedralen. Vor allem dann!
Und vielleicht ist dies sogar der einzige Grund, der aber dann so stark und fest, dass ich es gar nicht bestimmt und fest und laut genug sagen kann, warum man sich, so es noch Reste gibt, dieses 100 Euro teuren Kalenders bemächtigen sollte (zumal der volle Kaufpreis für ein im Mai 2009 statt-findendes Scheufelen Papier-Symposium angerechnet wird und damit der Eintritt dort frei ist). Weil dieser Kalender mit jedem, der von Druck-Kunst etwas versteht, einen für andere unhörbaren Dialog beginnt, der vergnüglicher Natur ist: Siehe, sagt das Kalenderblatt, ich bin nur für Dich, nur für Dich! produziert worden, „for your eyes only“, wie der Werbetext zum Kalender auch folgerichtig ausdrücklich vermerkt – und damit des Pudels Kern trifft.
Ein wenig fühle ich mich jetzt wie ein Kunsträuber, der im Louvre die Mona Lisa gestohlen hat. Sie lächelt jetzt nur für mich, denn wem will ich dieses Bild noch zeigen, ohne für den Rest des Lebens im Kerker zu landen? Wer außer mir Druck-Begeisterten kann ermessen, welch ein Unikat ich nun zwölf Monate lang hoffentlich täglich im Blick habe, for my eyes only?!
Mich persönlich aber wird der Kalender noch an etwas anderes erinnern – und, siehe da, Kunst, zweckfreie, beginnt plötzich zu wirken, wie es ihrer Absicht zur Nicht-Absicht und ihrem Wesen des Unfassbaren vorschwebt und gerecht wird. Mich ermahnt der Kalender, Achtung, Hoch-Achtung zu haben vor Menschen, die der Druck-Kunst wegen, auch mitten in einer Insolvenz-Krise, erst recht inmitten einer wirtschaftlich eher unüber-schaubaren Situation es wagen, sich und rund zwei tausend anderen Au-genpaaren zu beweisen, wie mächtig, wie stark, wie schön, wie vielfältig, wie ausdrucksstark, wie selbstbewusst, wie farbenfroh, wie künstlerisch, wie einfühlsam, wie wertvoll, wie liebenswert, wie einzigartig Drucken sein kann – ach was, wie Drucken eigentlich immer ist.
Die Unendlichkeit der Unikate
Vielleicht bedurfte es wirklich dieses Gewaltaktes von gut zweitausend Kalender-Unikaten, um sich und aller Welt klarzumachen, dass es die Funktion einer jeden jemals gedruckten und noch zu druckenden Druck-sache ist, ein Unikat zu sein, dass „for the reader‘s eyes only“ seine Wirkung entfaltet – indem sie Botschaften vermittelt, die vielleicht nicht einmalig sind, aber uns möglicherweise nur ein einziges Mal im Leben begegnen.
Passt es da nicht, dass auch ein jeder Tag, den dieser Kalender anzeigen wird, auch ein Unikat ist? Und durch unsere persönliche Kunst, wir nennen es Lebens-Kunst, wertvoll veredelt, umgeschichtet, mit ausgesuchten Motiven und in unterschiedlich emotionalen Farben gestaltet wird … aber eben, ich habe ja schon erzählt, wie alles entstand.
Der Kalender. Und das Leben an sich. Ihr, mein, ein jedes unikate Leben. Zu dem es dieses Jahr den passenden Kalender gibt.
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