Drucken gewinnt an Wert und durch Werte

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Prognosen sehen die gesamte Informations- und Kommunikations-Industrie in einem positiven Licht. Sie gilt als Wachstumsmotor. Auch wenn sich das Verhältnis von 1995, nämlich Zweidrittel Gedrucktes, ein Drittel Electronic bis 2020 auf Gegenteil verkehrt haben, ein Drittel Gedrucktes, die Mehrheit elektronisch, so braucht keine der Sparten zu darben: dies alles basiert auf einem Wachstum um fast 300 % in einem Vierteljahrhundert. Goldene Zeiten. Oder?

 

(hgw) Oder auch nicht. Denn die wichtigste Statistik wird nie veröffentlicht. Wieviel Prozent der Information ist völlig nutzlos, erreicht nie auch nur annähernd den Zweck, zu dem sie produziert und schließlich ja auch bezahlt wurde. Gerade das Internet ist ein Paradebeispiel für Informationsvermehrung, die keinerlei wirtschaftlichen Gesichtspunkten mehr unterliegt. Scheinbar kann man Informationen ohne Ende einstellen, ohne dass es viel kosteten muss – und damit ist niemand mehr im Rechtfertigungsdruck.

Freilich, es gibt Statistiken über den Informations-Konsum. Beispielsweise, wie lang sieht ein Rentner, der ländlich wohnt und verwitwet ist, männlich und ehemals Beamter, täglich durchschnittlich fern? Oder wie lange liest ein 14jähriges Mädchen aus der Unterschicht täglich Zeitung, statistisch gesehen? Aber was sagen diese Zahlen? Was bitte ist „Informations-Konsum“?

Es gab Zeiten, da gingen Schüler in Schulen, weil sie etwas lernen wollten. Das gibt es zwar immer noch, aber hauptsächlich geht man dahin, weil man es muss. Es gab Zeiten, da schaltete man das Fernsehgerät an, weil man sich informieren oder unterhalten lassen wollte. Heute läuft das Gerät einfach nur so. Und kennen Sie einen, der nicht übers Programm meckert?

Kino gehen der Filme wegen? Ja schon, aber nicht wirklich – man geht, weil man nur dann mitreden kann, wenn man angesagte Filme kennt. Download von Charts, gerne auch über illegale Tauschbörsen? Nichts anderes als der Blutrausch der Jäger, die auf einen Schwarm oder eine Herde hilfloser Opfer treffen, die sie metzeln können. Mehr, als man jemals verzehren könnte. Hauptsache Donwload. Egal was. Hauptsache viel.

Testen Sie es selbst: fragen Sie Menschen, die gerade eine Nachrichtensendung gehört haben, was Sie behalten haben. Fragen Sie Ihre Familienmitglieder oder Arbeitskollegen, die gerade die Zeitung gelesen haben, was hängen geblieben ist. Fragen Sie sich selbst, wo sie denn die Akte X vor einigen Wochen hingelegt haben oder wo Ihnen die Information Y begegnet ist. Leere auf der ganzen Linie. Je mehr Informationen auf uns einstürmen, desto mehr vergessen wird.

Informationen sind eine Dusche. Kann man nasser werden, wenn man die Dusche weiter aufdreht? Wird man sauberer, wenn der Duschkopf vergrößert wird? Ist unser Gehirn unendlich?

Theoretisch ja, aber praktisch nicht. Theoretisch erreichen wir nie die physikalisch maximale „Füllmenge“ der möglichen Neuronen-Verknüpfungen, aus denen Wissen (Erinnerungen, Assoziationen) existieren und gemacht sind. Doch praktisch ist das Anlegen, Neuformen von Wissen immer an vor allem emotionale Erlebnisse gebunden, die durchaus auch mental ablaufen können – und diese Abläufe brauchen ihre Zeit. Man kann 100 Meter in knapp zehn Sekunden laufen. Frage: Läuft man wesentlich schneller, sagen wir drei Sekunden, nur weil einige tausend Menschen zugleich starten? Vergleichsweise: behalten wir mehr, wenn mehr Informationen auf uns eindringen?

Denn die Bedeutung von „Wissen“ ist „Merken“, „Behalten“. Ist etwas, was wir nicht „parat haben“, Wissen? Eher kaum, denn Wissen ist ja nach allgemeinem Verständnis das, was wir „stante pedes“, auf der Stelle aus unserem Gedächtnis abrufen können. Oder gilt neuerdings als Wissen, was wir elektronisch (auf Datenträgern) gespeichert haben oder was im Internet per Suchmaschine und Browser aktuell zugänglich ist?

Exakt an diesem Punkt sind wir angekommen. Wir müssen uns überlegen, was in Zukunft als Wissen definiert wird. Denn darüber entscheidet sich auch das Schicksal der Medien. Die Begrifflichkeit Wissen sagte in der Vergangenheit, dass etwas von allgemeinen Medien in das Gehirn der Menschen transferiert wurde; exakt das war Aufgabe von „Informationen“, einem Begriff, den man in diesem Zusammenhang mit dem Wort „Medium“ gleichsetzen darf.

Denn „das Internet“ kann man gar nicht mehr in „Wissen“ umsetzen, man kann das Internet nicht auswendig lernen oder in seinen wesentlichen Inhalten nacherzählen. Von einem guten Buch aber sollte man dies verlangen können. Zeitungen und Zeitschriften haben ja auch den Vorteil, dass man sie zur Seite, archivieren, über Generationen bewahren kann. Das Internet und andere elektronische Medien sind nach Sekunden oder spätestens wenigen Jahren verschwunden oder unlesbar.

Doch während der „Stoff“, aus dem das Internet besteht, nämlich digital-elektronische Speichermedien und Verbindungswege in digitaler Netzform, noch substanziell erweiterbar ist – also „quasi-unendlich“ – geht Print ein grundsätzlich anderes Schicksal. Die oft verbreitete Behauptung, wir genügend Papier als Rohstoff, ist eine blanke Lüge. Sie berücksichtigt nicht im geringsten

Das ist um so dramatischer, als dass diese falsche Annahme gewissermaßen „offizielles Verhalten“ von Verbänden und größeren Herstellern (z. B. Druckmaschinenherstellern) ist. Sie unterstellen samt und sonders, Papier könne nicht knapp werden. Ein Trugschluss, der nicht nachvollziehbar ist. Mit anderen Worten: die „Vordenker“ und viele Verbände schließen bewusst die Augen vor der Schicksalsfrage der Druckindustrie. Und es geht auch nicht im geringsten um die Frage, ob das Gedruckte der Zukunft in welchem Verhältnisanteil Offset oder digital gedruckt wird, per Verlag vertrieben oder von Usern zu Hause und in Büros „selbst gedruckt“ wird.

Pro Kopf gibt es weltweit einen statistisch signifikanten Unterschied des Papierverbrauchs in den Ländern. Während ein US-Bürger 303 kg jährlich verbraucht, sind es in Deutschland 239 kg, in Frankreich dagegen 178. Wieso, lesen die weniger? Nutzen die kein Toilettenpapier? Oder die Iren, sie kommen mit 100 kg aus. Nun wäre es aber auch vollkommen egal, ob die Iren nun auf den Papiertrip kommen und soviel verbrauchen wie die Deutschen. Es wäre gemessen am Gesamtvolumen Deutschlands ein niedriger einstelliger Wert, den die Papierfabriken mehr produzieren müssten.

Doch, dramatisch genug, in China werden pro Kopf pro Jahr nur 45 in Indien unter 30 kg ge- und benutzt. Würde China den Verbrauch auf die Hälfte des deutschen Wertes anheben (auch über eine Periode etlicher Jahre), so hieße dies, es würde rund 5 mal mehr verbrauchen als Deutschland heute. Und heute schon „verschlingt“ China dreimal so viel Papier wie Deutschland. Würde auch Indien zusätzlich auf den gleichen Wert aufholen (sie wären immer noch weit hinter US- und europäischen Maßstäben), so wäre damit auf einen Schlag das Papiervolumen der gesamten USA kompensiert.

Dieses Wachstum ist schlichtweg nicht machbar, selbst bei der heute schon längst mustergültigen Receyclingquote. Denn selbst wenn diese exorbitante 80 Prozent weltweit sein sollte, so hieße es immer noch, dass alleine Chinas Wachstum (auf die angenomme Hälfte des deutschen Maßstabs) auch unter Einbeziehung des Receyclings das Gesamtvolumen Deutschlands braucht. Mit anderen Worten: entwickeln sich die wachsenden Industriestaaten der ehemaligen „Dritten Welt“ weiter wie bisher, werden Sie so harte Rohstoffkonkurrenten, wie dies beim Öl, Stahl, beim Wasser und anderen lebensnotwendigen Stoffen schon längst der Fall ist.

Man könnte argumentieren: Aus sicht der Druckmaschinenhersteller ist es egal, wo gedruckt wird, die können Maschinen überall hin verkaufen und daher das Problem ignorieren. Doch dies ist ein Trugschluss. Denn die Papierindustrie kann nicht so schnell so voluminös wachsen. Erstens kann man nicht Papiermaschinen aus dem Boden stampfen, zweitens – wo sollen die Rohstoffe, das Holz so schnell herkommen. Ökologischer Irrsinn – mehr Abholzen als nachwächst – wird global politisch kaum noch durchsetzbar sein. Die Welt beginnt, um zu überleben, sich gegen solchen Irrsinn zu wehren.

Und damit sind „Massenmedien“ auf Papier per se „tot“, haben kein signifikantes Wachstum mehr. Wo und ob man Papier benutzen muss, wird man sich zunehmend überlegen. Papier als Etikett auf einer Bierflasche, und als Schulheft und Büromaterial fehlt es woanders – (mengen-statistisch gesehen)? Muss man wirklich Zeitungen ins Haus liefern, die nur zu 20 % gelesen werden? In einigen Jahren werden uns unsere Nachkommen genau so fragen, ob wir nicht einen Sprung in der Schüssel haben, unsere, pardon, Scheißhaufen mit bestem Trinkwasser wegzuspülen. Das ist Wahnsinn in Potenz.

Brauchen wir wirklich Prospekte, die ungelesen in den Müll wandern? Oder umgekehrt: Wer soll eigentlich das teure Papier in Zukunft bezahlen für ungenutzte Drucksachen, wenn durch die Nachfrage in Asien der Papierpreis auf das zigfache geklettert ist?

Denn wenn wir von den Experten hören, das Druckvolumen würde zunehmen, und zwar in den „alten Verbraucherländern“, also denen, die schon immer viel druckten, so kann das doch nur Sinn machen, wenn der Aufwand auch einen Nutzen hat.

Der Tag eines statistischen, berufstätigen Mitteleuropäers mag mit 18 Stunden Wachsein angenommen werden (was zu wenig Schlag, aber durchaus realitätsnah ist). Dann wird er sich angenommenermaßen 12 Stunden Aktivismus aussetzen. Kann sein, dass er davon gut 4 bis 6 Stunden liest (schließlich muss man auch noch Autofahren, an Sitzungen teilnehmen, oder irgendwas anderes machen). Nehmen wir an, für das Lesen einer „Information“ (was immer das sein mag) braucht man im Schnitt 5 Minuten. Dann kann man rund 60 „Vorgänge“ am Tag aufnehmen (wie z. B. einen Zeitungsartikel, einen Brief, eine Akteneinsicht, eine Verordnung, eine Gebrauchsanweisung usw.).

Klingt nach nicht viel. Überfordert aber jetzt schon das Gehirn. Wenn wir mal so locker sagen, oooooch, auch hundert „Lese-Vorgänge“ sind möglich, schön, dann braucht man „nur“ 3,5 Stunden mehr Zeit am Tag. Ist doch locker machbar, oder?

Eben. Das Gegenteil ist der Fall. Weil wir heute durch wirklich viel zu viele Lese-Einheiten hetzen (Stichwort: Email, auch wenn die immer seltener ausgedruckt wird), so muss doch die Lösung heißen: gedruckt wird nur noch das, wass die Minuten überdauern muss oder so wertvoll ist, dass es aus der Hetze des Alltags ausscheren muss und soll. Wenn Papier so teuer wird, wie die Rohstofflage es vermuten lässt, dann muss die Effizienz des Gedruckten gewaltig zunehmen. „Weniger, aber wertvoller drucken“ ist ein Weg, der wie von selbst vorgezeichnet ist. Wie immer er im konkreten Fall sich real entwickeln wird. Aber an der Tendenz gibt es nichts zu deuteln.

Wir müssen sogar, wenn wir immer mehr Wissen und damit Fakten und daraus abgeleitet letztendlich „die Wahrheit“ auf digital-elektronische Medien umstellen, unser gesamtes Rechtssystem, unsere Wertenormen, ja unsere Art, wie wir miteinander umgehen, vollständig ändern. Ich beispielsweise „lese“, sprich nutze das Internet wahrscheinlich völlig anders als Sie. Sie und ich – wir haben längst nicht mehr gemeinsame, schon gar nicht identische Ansichten und Wissensstand. Früher lasen alle Bewohner einer Stadt mehr oder weniger dieselben Zeitungen, sie waren in etwa einheitlich informiert. Heute: zwei Internet-Nutzer – und Welten dazwischen. Ich lese etwas auf einem digitalen Datenträger und treffe eine Entscheidung. Sekunden später ist der Datenträger in der Informationsflut nicht mehr auffindbar, nicht mehr generierbar (weil momentaner Auszug aus einer Datenbank) oder schlichtweg unlesbar. Wie kann ich beweisen, dass meine Entscheidungsgrundlage real, richtig, „gültig“ war – und das im Extremfall vor Gericht?

Vielleicht erleben sogar Teile der grafischen Industrie einen Boom oder eine Renaissance, an die wir gar nicht vordergründig denken. Sicherheits-Drucken beispielsweise. Eine Bestellung, einen Vertrag druckt man heute per Laserprinter auf beliebigem Papier. Wie kann ich dessen Echtheit garantieren oder beweisen? Vielleicht hilft demnächst Drucken (der professionellen Art), „echte Information“ von der virtuellen digital-flüchtigen Netz- und Datenträger-Welt zu unterscheiden. In jedem Falle aber wird Papier das erleben, was die Entwicklung von allem Knappen ist: es symbolisiert Wert. Und damit möglicherweise Tendenzen, die heute manchmal (noch) als Nischenmarkt angesehen werden, bald ein regelrechter Rettungspfad für die Druckindustrie: Veredelung. So wie man (wertvolles) Gold mit (wertvollen) Edelsteinen kombiniert, könnte man bald im symbolischen wie realen Sinn viel mehr als heute (teures) Papier mit (kostenaufwändiger) Veredelung vereinen.

Und spätestens dann teilt sich das Wachstum und die Enwicklung von generell gesehen „Kommunikation“ oder „Ware Information“ in mindestens zwei grundsätzlich verschiedene Bereiche. Einerseits die schiere Menge der „verfügbaren Information“, die immer mehr durch elektronische Medien, Netzzugriffe (Internet, Intranet, Extranet) symbolisiert und realsiert wird. Und die Ertragsentwicklung durch „Medien-Veredelung“, die genau das Gegenteil erlebt. Wird das Internet immer mehr und immer kostenloser, so könnte Gedrucktes quantitativ weniger, aber in der Wertschöpfung signifikant steigend, sogar explosiv werden.

Aus den simplen Hochrechnungen, so wie sie uns vor allem jetzt im Umfeld der drupa allesamt „um die Ohren gehauen werden“, ergeben sich logisch weitergedacht brisante Entwicklungen, deren Auswirkungen als Entscheidungshilfe bei langfristigen, strategischen Investitionsplanungen eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Denn ganz pragmatisch gesehen heisst das für Dienstleister der gesamten Medienindustrie, entweder mehr zur Seite „Medienexplosion“ im Sinne von Menge und Masse zu gehören oder eben zum Segment „Medieneffizienz“, bei dem ein Weniger als Menge zugleich ein Mehr an Wirkungskraft bedeutet.

Und aus diesem Grunde sollten wir uns vielleicht ab sofort gar nicht mehr so sehr wünschen, dass die Druckindustrie wächst. Dass sie ertragreicher wird, das müssen wir in den gesättigten Industrieländern aller Voraussicht nach über den Faktor Medieneffizienz erarbeiten, der mit dem knapper werdenden Gut Papier anders umgeht als bisher.

Gründer und CEO von zipcon consulting GmbH, einem der führenden Beratungsunternehmen für die Druck- und Medienindustrie in Mitteleuropa. In den unterschiedlichsten Kundenprojekten begleiten der Technologie- und Strategieberater und sein Team aktiv die praktische Umsetzung. Er entwickelt Visionen, Konzepte und Strategien für die im Printerstellungsprozess beteiligten Akteure der unterschiedlichsten Branchen. Seine Fachgebiete sind u.a. Online-Print, Mass Customization, Strategie- und Technologie Assessment für Print, sowie die Entwicklung neuer Strategien im Print- und Mediaumfeld. Bernd Zipper ist Initiator und Vorsitzender der Initiative Online Print e.V. und neben seiner Beratertätigkeit Autor, Dozent sowie gefragter Referent, Redner und Moderator. Seine visionären Vorträge gelten weltweit als richtungsweisende Managementempfehlungen für die Druck- und Medienindustrie. (Profile auch bei Xing, LinkedIn).

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