Haeme Ulrich ist Berater. Der Schweizer hat sich dabei auf Leadership, die digitale Transformation und Multi-Channel-Publishing konzentriert.
Bernd Zipper: Haeme, die Covid-19-Krise hat die Druckindustrie hart getroffen. Wie bewertest Du die aktuelle Situation und wie geht es den Unternehmen, mit denen Du zusammenarbeitest?
Haeme Ulrich: Es ist recht schwierig zu sagen, wie es ihnen wirklich geht. Auch in der Schweiz haben viele Unternehmen Kurzarbeit – das verzerrt die Wahrnehmung ein bisschen.
Aber es ist wirklich so, dass viel weniger gedruckt wird. Und das ist auch logisch: Wenn Events nicht stattfinden, wird weniger Marketing gemacht und damit wird auch weniger gedruckt. Das ist das, was ich von unseren Schweizer Kunden aus der Druckindustrie direkt erfahre.
Gleichzeitig spüre ich aber auch so etwas wie Pioniergeist. Von Resignation oder Aufgeben spüre ich wenig. Im Gegenteil, vielleicht auch durch die Bedingungen mit dem Remote Work, gibts einen Schub in Richtung Experiment: „Komm, wir probieren neue Modelle aus!“ Neue Modelle in der Zusammenarbeit, aber natürlich auch neue Angebote am Markt.
Bernd Zipper: Pioniergeist ist ja gut, das ist ja auch das, was wir beide immer wieder einklagen: Neue Wege gehen. Aber was muss sich konkret ändern?
Haeme Ulrich: Was sich nicht ändert, ist die Basis, das Fundament von einem Betrieb, und damit meine ich vor allem die Firmenkultur, die Art und Weise wie Unternehmen geleitet werden. Ich habe in meiner nächsten Umgebung zwei Beispiele von Mittelständlern mit je knapp um die 100 Mitarbeitenden.
In der einen Firma wird Top-Down gearbeitet und alle werden immer mehr gestresst. So müssen alle Monate ein paar Leute weg. Und in der anderen Firma, da ist der Senior-Chef tatsächlich von Person zu Person gegangen und hat gesagt: „Du, wir kommen auf einen riesigen Sturm zu und Du als Mitarbeiter hast zwei Möglichkeiten: Entweder bleibst Du im Boot und musst dann mitrudern, oder Du musst das Boot verlassen. Aber der Sturm kommt: Jetzt!“
Bernd Zipper: Aber wie kann sich ein Firmenlenker aus dieser Situation der scheinbaren Perspektivlosigkeit befreien? Offen aufeinander zugehen ist der erste Schritt. Und weiter?
Haeme Ulrich: Der Kapitän muss ehrlich sein mit dem ganzen Team. Das ist genau die Lösung. Ich vergleiche das wirklich gerne mit einem Boot im Sturm – das kommt auch nur hindurch, wenn alle an einem Tau ziehen. Dabei ist ganz wichtig, dass Ehrlichkeit auch kommuniziert wird, selbst wenn der Chef nicht mehr weiter weiß. Schlimm oder extrem wird es dann, wenn der CEO die Antworten nur sich selbst gibt: „Wir haben neue Ideen für neue Märkte. Darüber können wir jetzt zehn Minuten diskutieren, aber der Entschluss steht fest.“ Das ist dann gegenüber den Mitarbeitenden eine glatte Verarschung.
Bernd Zipper: Viele Drucker führen ihr Geschäft wie ein Gutsherr oder Patriarch. Denen fällt es eigentlich schwer, die Maske fallen zu lassen und den Habitus des Unternehmers hinter sich zu lassen. Hast Du eine Anregung, wie man sich als Manager motivieren könnte, dies aktiv zu verändern?
Haeme Ulrich: Ich denke, dass wir sehr viel vom Sport lernen können. Der Unternehmer wäre dann der Trainer oder der Coach und der müsste sich auch selbst so sehen. Er ist nicht derjenige, der die Spitzenleistung an den Tag legen muss – das macht ja sein Team. Aber er muss sein Team optimal vorbereiten, er muss ihm den Rücken freihalten, er muss funktionierende Regeln definieren und die passenden Werkzeuge zur Verfügung stellen. So sehe ich den Chef in der Krise.
Bernd Zipper: Gleichzeitig gibt es die Bestrebung einiger, genau diese Zeit jetzt zu nutzen, etwas zu ändern und einen Wandel einzuleiten – was sowohl die Firmenkultur angeht, aber auch die digitale Transformation. Wie siehst Du das? Ist eine Krise die richtige Zeit, solche „Change-Themen“ zu besprechen?
Haeme Ulrich: Es gibt verschiedene Phasen einer Krise. Es gibt die erste Phase, die sich, glaube ich, jetzt langsam legt. Das ist die Phase der Überforderung, die Phase des Erschreckens, die Phase des „auf Not-Modus schalten“ und so etwas wie die Fluchtphase. Da kannst Du nur noch rennen. Diese Phase verlassen wir nun langsam und können uns wieder Gedanken machen, wie es mittel- oder langfristig weitergehen soll. Wer also jetzt glaubt, die Zeit ist reif dafür – ran an den Change-Prozess.
Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass wir in der Druckindustrie grundsätzlich Probleme haben, nicht erst wegen Corona. Corona hat das einfach nur viel viel klarer werden lassen.
„Es gibt verschiedene Phasen einer Krise. Es gibt die Phase der Überforderung, die Phase des Erschreckens, die Phase des „auf Not-Modus schalten“ und so etwas wie die Fluchtphase. Da kannst Du nur noch rennen. Diese Phase verlassen wir nun langsam.“ – Haeme Ulrich
Klar, es wird viel weniger gedruckt. Aber das haben wir auch vorher schon beklagt. Für mich als Unternehmer würde die Situation bedeuten: „Jetzt erst recht …!“
Bernd Zipper: Jetzt erst recht heißt aber auch, ich muss mit den Gegebenheiten klarkommen …
Haeme Ulrich: Das ist richtig. Aber das Wichtigste ist, ehrlich zu sein. Damit meine ich, eigene Unsicherheit nicht zu unterdrücken oder zu überspielen, sondern auch wirklich mal zu kommunizieren: „Ich weiß selber nicht, wohin.“ Wenn Du als Führungsperson in der Lage bist, Schwäche zu zeigen, ist das die eigentliche Stärke, damit Leute Dir vertrauen. Und das Schlimmste, das man machen kann, ist Unsicherheit mit Unsicherheit beantworten.
Bernd Zipper: Bei einem Neubeginn oder Change-Prozess Unsicherheit zur Schau zu stellen, ist sicher nicht sehr motivierend für andere. Wie würdest Du denn einen Change-Prozess einleiten, unter der Voraussetzung der limitierten Ressourcen?
Haeme Ulrich: Ich veranstalte ja so einige Change-Workshops, bei denen häufig das mittlere Management dabei ist. Die meisten meinen: „Ist halt schwierig, wenn es nicht Top-Town kommt.“
Das ist zwar das mit Abstand einfachste, wenn es eine Vorgabe gibt. Das Problem bei größeren KMUs ist aber häufig, dass es dort zwei unterschiedliche Kulturen gibt: Die geschützte Werkstatt beim CEO und seiner Bubble – und dann gibt es die Produktion. Die hören dann immer nur, dass es etwas Neues quasi als Erlösung gibt. Aber genau die Truppe in der Produktion wird bei häufigen Änderungen resistent. Die verstehen Änderungsprozesse kaum – und wenn doch, werden diese erst mal als Störung wahrgenommen. Das heißt ja in der Konsequenz: Ich muss die Änderungen teamweise angehen.
Bernd Zipper: Change ist ja das eine, man spricht aber heute auch ständig über das „neue Normal“.
Haeme Ulrich: Das ist wirklich eine komische Bezeichnung für die Situation. Aber im Business-Kontext bedeutet das: Das neue Normal ist agil. Agil bedeutet auch, ich passe meine Richtung, vorwärtszugehen, immer den aktuellen Situationen an. Dann kann ich auch ganze Projekte mit agilen Managementmethoden steuern.
Da kann ich definitiv auch Teamebene anfangen und muss nicht alles Top-Town von oben nach unten befehlen oder delegieren.
Bernd Zipper: Wenn Du nun sagst, dass es unterschiedliche Kulturen gibt und dass „Agilität das neue Normal ist“, wie kann jetzt ein Unternehmer, der seit 30 Jahren das gleiche Managementmodell und das gleiche Konzept fährt, wie kann der dann Agilität lernen? Dann braucht der doch für sich selbst einen Trainer!
Haeme Ulrich: Eigentlich ist es ja verrückt: Wäre er als Unternehmer nicht irgendwann agil gewesen, hätte er wohl nicht überlebt. Wir alle waren einmal agil, sonst hätten wir das Kindesalter nicht überlebt. Wir müssen also nichts neu lernen, sondern das, was wir einmal konnten, wieder zulassen.
Dazu gehört eben auch, durch Fehler zu lernen, Scheitern zuzulassen und etwas zusammen zu machen statt im Einzelwettkampf. Das haben aber viele Unternehmer vergessen. Und sie haben auch vergessen, dass sie Mitstreiter brauchen.
Bernd Zipper: Wenn nun ein Unternehmer sagt: „Ich gehe jetzt mal diesen Weg und ich möchte das ein bisschen dazulernen“, greifen viele in ihrer Not zu den viel-gehypten Start-up-Rezepten. Wir machen alles im Stehen, alle bekommen einen Kaffee, wir duzen uns alle und sind allesamt maximal hip. Das kann ja eigentlich gar nicht funktionieren. Hast Du eine Idee, wie man so etwas angehen könnte?
Haeme Ulrich: Ich finde es sehr wichtig, was Du da gerade ansprichst. Nur wenn Du den Dress-Code änderst und ab morgen kommen alle mit Hoodie und Turnschuhen, bist Du nicht digital transformiert. Das hat überhaupt keinen Einfluss auf die Digitalisierung oder die Transformation.
Wichtig ist, dass man sich nicht mit den Äußerlichkeiten beschäftigt, sondern wirklich mit der Kultur im Sinne von Vertrauen. Ich denke, Start-up-Kultur ist Vertrauenskultur. Das kann man auch auf gestandene Unternehmen anpassen.
Und all die, die behaupten, agil zu sein, dürfen das bitteschön nicht mit Chaos verwechseln. Es gibt agiles Denken und nur wenige Regeln. Aber die muss ich absolut stur und bombensicher einhalten.
Wenn ich meine Termine nicht managen kann und auch andere Zusagen oder Verbindlichkeiten nicht halte, habe ich den Laden nicht im Griff. Wer dann sagt, „Ja, wir arbeiten eben agil“, ist einfach nur eine Chaos-Truppe, oder?
Bernd Zipper: Und was sind für dich die wichtigsten Regeln der Agilität?
Haeme Ulrich: Was für mich zum Beispiel sehr wichtig ist, ist das Daily-Stand-up, das Planungsmeeting oder wie auch immer man das nennen mag. Man schaut sich im Team jeden Morgen die Situation neu an. Daraus ergeben sich drei klassische Fragen, die man sich gegenseitig beantworten sollte:
„Was habe ich gestern gemacht? Was mache ich heute? Was sind die Probleme, die mich daran hindern, das zu tun, was eigentlich dran wäre?“ Wenn das alle im Team jeden Morgen beantworten, ist ein Großteil der Kontrolle, die früher der Chef machte, hinfällig. Und innerhalb von zehn bis fünfzehn Minuten haben alle im Team ein Gefühl dafür, was überhaupt abgeht.
Man darf nur einen Fehler nicht machen: Irgendwann zu sagen, das ist eh jeden Morgen das gleiche, diese drei doofen Fragen, und dann aufzugeben. Am Schluss hast Du dann gar keine Führungskultur mehr, das ist dann auch nicht agil, das ist dann einfach nur unorganisiert.
Bernd Zipper: Gut – aber wie soll dann konkret „agil“ geplant werden?
Haeme Ulrich: Im klassischen Denken planst Du ja die Leute und im agilen Denken planst Du die Arbeit. Also: „Manage the work not the workers “. Man spricht da also vom Working-Progress und nicht von einem Job, den jetzt gerade die Anna oder der Fritz erledigen.
Das ist eine Frage der Planung von Aufträgen und Ressourcen. Ich manage also die Arbeit in aller Konsequenz und nicht die Arbeitenden.
„Nur wenn Du den Dress-Code änderst und ab morgen kommen alle mit Hoodie und Turnschuhen, bist Du nicht digital transformiert. Das hat überhaupt keinen Einfluss auf die Digitalisierung oder die Transformation.“ – Haeme Ulrich
Bernd Zipper: Stichwort „Kanban“, die Toyota-Methode, wie organisiere ich eine Produktion. Ich sehe da eine sehr große Nähe zur Druckindustrie, gerade in dem Erledigen von Aufgaben. Viele versuchen sich da schon. Jetzt haben wir mittlerweile Applikationen wie Microsoft Teams, wo ich Kanban einbinden kann, wo ich gleichzeitig kommunizieren kann, eine gemeinsame Datenablage nutzen kann und so weiter. Ist es eine Voraussetzung für die digitale Transformation im Unternehmen, über eine solche Plattform zu arbeiten?
Haeme Ulrich: Also, es ist eine große Hilfe, ganz sicher. Aber es ist nicht die Voraussetzung. Die Frage ist ja, ob die Transformation überhaupt digital sein muss im Sinne von massivem Technikeinsatz. Transformation kann ja auch einfach sein, indem ich „lean“ oder „agiler“ werde.
Es ist die Denkweise und es sind die Spielregeln, die eine Rolle spielen: Offen, ehrlich, unmittelbar, kooperativ – das erleichtert das Zusammenspiel extrem. Aber es ist wie immer: Das Werkzeug alleine macht es nicht aus, Du musst es auch sinnvoll einsetzen.
Bernd Zipper: Was wäre denn jetzt Dein ultimativer Tipp, wenn Dich ein Unternehmer fragt: „Was soll ich machen? Ich bin ehrlich, ich habe schon Kanban, aber trotzdem sehe ich irgendwo kein Land. Ich stecke hier in der Krise: finanziell, menschlich, mental, einfach in jeglicher Hinsicht.“
Ich glaube, dass es viele Unternehmer gibt, die kein Land mehr sehen und denen das Berater-Gebrabbel von Dir und mir ziemlich auf den Keks geht, weil sie sagen: „Ja, ihr steckt ja nicht in der Produktion, ihr wisst ja nicht, worum es hier geht.“ Und letztlich stehen die vor dem Nichts. Was sollen die jetzt tun? Was sollen die tun, um da irgendwie wieder rauszukommen?
Haeme Ulrich: Hätte ich die 10-Punkte Liste für alle, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen. Wir sind ja mit unserer Firma im gleichen Sturm drin. Aber vielleicht kann man mit dem, was mir kürzlich ein älterer und weiser Mann gesagt hat, etwas anfangen: „Probiere, solange es möglich ist, nicht abhängig zu sein mit Deiner Firma. Mit anderen Worten: Versuche so lange irgendwie möglich, kein externes Geld zu beziehen, weil Du dann zum Junkie wirst.
Jetzt kenne ich natürlich das Arbeitsrecht in Deutschland eher schlecht und ich weiß, dass es in der Schweiz viel einfacher ist, verrückte Ideen zu spinnen und umzusetzen.
Als Corona bei uns losgegangen ist mit Lockdown und all dem und wir innerhalb von zwei Tagen sahen, dass 80 Prozent unserer abgemachten Aufträge verloren waren, haben wir in unserer Firma untereinander Kurzverträge gemacht. Wir nehmen nur so viel Lohn, wie wir gerade brauchen zum Überleben.
Und wir haben dann stinkfrech einen Design-Thinking-Workshop gemacht und geschaut, wie wir uns selber neu erfinden können.
Das geht in der Schweiz – in Deutschland aber wohl nicht. Wichtig ist, im Team und Unternehmensumfeld Mitstreiter zu finden und diese einzubinden.
Bernd Zipper: Also ich würde formulieren: Suche Dir Verbündete, suche Dir Freunde, weil ohne Freunde bist Du nichts.
Haeme Ulrich: Unbedingt. Ja, das ist das, was ich meine.
Bernd Zipper: Haeme, ich danke Dir für die Zeit und das Gespräch. Ich denke, zu dem Thema werden wir uns noch das eine oder andere Mal sprechen. Denn das neue Normal ist Agilität.
