von Jürgen Geiger, CEO & Gründer mypromo.com
„Lass‘ sie doch einfach weiter schlafen!“ – so ein international aufgestellter Onlineprinter vor einigen Jahren halb im Scherz. Denn er war überzeugt, unsere 3,5-Milliarden-Euro-Branche habe den Einstieg in die Digitalisierung komplett verschlafen. Er sah ein weitgehend unbestelltes Feld und witterte riesiges Potenzial für sein Online-Business.
Wie hat sich die Werbeartikelwirtschaft seitdem digital weiterentwickelt? Es ist kaum zu glauben, aber wahr: Unterm Strich so gut wie gar nicht. Corona hat offenbar nicht nur unsere Geschäfte, sondern auch das Denken gelähmt und einen klaren Blick in die Zukunft vernebelt. Deshalb: Kopf aus dem Sand und wieder die Sinne für die Fakten schärfen!
Der Marktanteil der Online-Pure-Player wächst. Ins Corona-Deutsch übersetzt heißt das: Online hatte in der Krise spürbar geringere Umsatzrückgänge als der traditionelle Handel. Zudem kommt das Online-Geschäft jetzt wieder viel schneller in die Gänge und zurück in die Wachstumsspur. Die klassischen Händler samt ähnlich aufgestellter Lieferanten befanden sich anderthalb Jahre im reinen Überlebensmodus. Deren Umsatzrückgänge 2020/21 gehen eben nicht allein auf das Corona-, sondern zu einem Teil auch auf das Wettbewerber-Konto der Onliner. Keiner weiß genau, wie groß dieser Anteil ist. Aber eines steht fest: Der Teil, der weg ist, kommt nicht wieder.
Corona hat offensichtlich das Gehör massiv geschädigt. Sonst hätte die Branche den Schuss längst gehört. Digitalisierungsinitiativen, seien es nun solche vom GWW (Gesamtverband der Werbeartikel-Wirtschaft e.V.) oder auch unternehmerische, laufen zum überwiegenden Teil ins Leere. Das Interesse der Branchenteilnehmer ist verschwindend gering. Manch einer versucht sich sogar in der Rolle rückwärts und stellt gerade begonnene Digitalisierungsmaßnahmen wieder ein. Die Erkenntnis, dass man mit dem Online-Verkauf nicht mal eben eine „schnelle Mark“ machen kann, wird als Beweis dafür herangeführt, dass Digitalisierung und Online nichts für Berater seien. Das grenzt für mich schon an Realitätsverweigerung.
„Unsere Produkte eignen sich nicht für den Online-Vertrieb“ oder „Meine Kunden wollen persönliche Beratung und Service“: Stimmen wie diese hörte ich früher zumeist aus der Druckindustrie. Heute sind sie verstummt. Warum? Weil es diese Druckereien nicht mehr gibt. Sie gehören zu jenem Drittel, die mit durchgetretenem Gaspedal und festem Blick in den Rückspiegel in den Abgrund gerast sind. Und ein Ende des Druckereisterbens ist nicht absehbar. Von Werbeartikelhändlern vernehme ich solche Sätze immer noch jeden Tag – und sie wer- den nicht weniger. Sie glauben, Geschichte wiederholt sich nicht? Meine Befürchtung: Sie wiederholt sich doch! Nämlich gerade jetzt, weil zu viele wortgleich denselben Fehleinschätzungen unterliegen.
Schafft sich die Branche deswegen selbst ab? Nein, keineswegs! Der Werbeartikel wird von den neuen Möglichkeiten des Onlinegeschäfts profitieren, und der Markt wird wieder wachsen. Wer sich hin- gegen selbst abschaffen wird, sind Marktteilnehmer, die unbeirrt am Glauben festhalten, sie befänden sich auf einer Insel und der Strom digitaler Veränderungen würde an ihnen einfach vorbeischwimmen, ohne sie und ihr Geschäft zu tangieren.
Ist der Zug für die traditionellen Werbeartikler nicht schon längst abgefahren? Noch nicht, aber es ist wirklich allerhöchste Eisenbahn! Online ist da, wächst und wird weiter wachsen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Noch aber sind die Online-Player in Reichweite und nicht übermächtig. Dabei haben die klassischen Werbeartikelberater und -händler ein Ass im Ärmel, das sie überraschenderweise weiterhin versteckt halten, anstatt es endlich offensiv auf den Tisch zu legen. Sie, und nur sie, sind es, die dem Kunden mit ihrer Expertise beides bieten könnten: Sowohl persönlichen Service als auch Online-Vertrieb mit digitalen Abwicklungstools, immer passend zum konkreten Bedarf und Wunsch des Kunden.
Aus meiner Sicht gibt es drei Erkenntnisse und damit Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche digitale Transformation klassischer Werbeartikel-Unternehmen:
- Digitalisierung ist kein operatives Tool des Tagesgeschäfts, sondern eine strategische Aufgabe, um das eigene Unternehmen zukunftssicher aufzustellen. Sie erfordert Investitionen in Geld und Zeit. Sie ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathonlauf.
- Digitalisierung beinhaltet mehr, als bloß online zu verkaufen. Digitale Prozesse in Abwicklung und Produktion sind mindestens genauso wichtig.
- Schluss mit dem Schwarz-Weiß-Denken! Es geht nicht um ein „Entweder-oder“, sondern um ein „Sowohl-als-auch“. Das Erfolgsrezept lautet, den klassischen Ansatz der Beratung um eine digitale Komponente zu erweitern, damit alle Kundenanforderungen der Zukunft – online wie offline – abgedeckt werden.
Mit freundlicher Genehmigung WA Media GmbH © 2021
Über den Autor:
Jürgen Geiger, Jahrgang 1960, ist Vorstandsvorsitzender des Kalender- und Papierwarenspezialisten Geiger-Notes AG sowie Vorstandsmitglied und stellvertretender Vorsitzender des GWW (Gesamtverband der Werbeartikel-Wirtschaft e.V.). Im Sommer 2018 initiierte er die Digitalisierungsoffensive mypromo, die er zusammen mit Heike Lübeck als Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender leitet. Im Kern geht es darum, Werbeartikelhändlern einen Online-Shop mit Zugriff auf schnell verfügbare Standardartikel diverser Lieferanten, einem echten Web-to-Print-Tool und voll automatisierter Abwicklung anzubieten.
