Hoch, höher, am höchsten: Es gibt Branchen, die unter der Corona-Pandemie und den Lockdowns alles andere als gelitten, sondern das Geschäft ihres Lebens gemacht haben. Verschiedene Onlinehändler zum Beispiel. Und Softwarefirmen, die mit ihren Tools den Onlinehandel überhaupt erst ermöglichen. Wie zum Beispiel Shopify. Die Anleger hat es gefreut, denn der Aktienkurz des kanadischen Unternehmens schnellte mit der Pandemie auf ein Allzeithoch – und ist inzwischen wieder in der Realität angekommen.
Stier…
154,70 Euro: Soviel war die Shopify-Aktie im November 2021 an der Frankfurter Börse wert, ein Allzeithoch für den Entwickler. Denn nachdem ab März 2020 Läden fast flächendeckend und immer wieder geschlossen wurden, haben viele Einzelhändler mit der Shopsoftware Shopify ihre Geschäfte ins Internet verlagert und ihre Produkte online verfügbar gemacht. Das einfache Einrichten, die unkomplizierte Bedienung und ein moderates Preismodell haben ihre Vorteile gegenüber den deutlich komplexeren Strukturen von Magento und Co. ausgespielt und selbst „Digital Non-Natives“ zu E-Commerce-Experten gemacht.
Kein Wunder also, dass auch die Aktie von Shopify in die Höhe schnellte. Die Nachfrage nach der Software war hoch – so hoch, dass die Unternehmensführung, wie es der Shopify-Gründer Tobias Lütke Ende Juli in einem Brief an die Belegschaft erklärte, lang geplante Roadmaps über den Haufen geworfen und „alles ausgeliefert wurde, was hilfreich für die Einzelhändler sein konnte“. Die Belegschaft wurde aufgestockt, auf gut 10.000 Mitarbeiter weltweit, um allen Anfragen und Belangen Herr werden zu können. Und der Umsatz? Der hat sich zwischen dem Vor-Corona-Jahr 2019 und 2021 fast verdreifacht; von knapp 1,6 Mrd. US-Dollar auf gute 4,6 Mrd. US-Dollar.
…und Bulle
28,61 Euro: Für diesen Wert wurde die Shopify-Aktie an der Frankfurter Börse keine sieben Monate später gehandelt. Ein neues 52-Wochen-Tief, das nur noch knapp ein Fünftel des Wertes aus der Hoch-Zeit darstellte. Aber wie kam es zu dem Einbruch? Tobias Lütke selbst formulierte es in seinem Brief an die Belegschaft vor wenigen Wochen so: „Vor der Pandemie war das E-Commerce-Wachstum konstant und vorhersehbar. Sollte dieser Anstieg ein vorübergehender Effekt sein oder eine neue Normalität? In Anbetracht dessen, was wir sahen, gingen wir eine […] Wette ein: Wir wetteten darauf, dass der Kanalmix – also der Anteil des Umsatzes, der über den E-Commerce und nicht über den physischen Einzelhandel abgewickelt wird – in den nächsten fünf oder sogar zehn Jahren einen dauerhaften Sprung nach vorne machen würde. […] Heute ist klar, dass sich diese Wette nicht ausgezahlt hat. Was wir jetzt sehen, ist, dass die Mischung ungefähr dorthin zurückkehrt, wo sie nach den Daten vor Covid zu diesem Zeitpunkt sein sollte.“ Als Konsequenz kündigte er in demselben Schreiben dann auch an, ein Zehntel seiner Mitarbeiter zu entlassen, knapp 1.000 Angestellte – vornehmlich in den Bereichen Recruiting, Kundensupport und Sales – hatten in diesem Moment ihren Job verloren.
Shopify verkleinert sich
Das klingt hart – und ist es auch. Vor allem vor dem Hintergrund der Umsatzzahlen 2020 und 2021. Doch wer genau hinschaut, erkennt, dass der Aktienkurs bereits seit Ende 2021 fiel und inzwischen gut 80 Prozent gegenüber seinem Höchstwert aus dem November 2021 eingebüßt hat. Da muss jeder Geschäftsführer handeln. Und Tobias Lütke hat das auf – für uns – ungewöhnliche Art und Weise getan: Er hat zugegeben, sich geirrt zu haben. „Letztendlich war es meine Entscheidung, diese Wette einzugehen, und ich habe mich geirrt. Jetzt müssen wir uns anpassen“, schrieb er.
In einer Zeit, in der es so viel einfacher ist, die Krise, die Umstände, die Wettbewerber, die schwierigen Kunden – kurzum: alle anderen – für seine Schieflage verantwortlich zu machen, zieht er sich nicht aus der Verantwortung. Natürlich hilft das den Entlassenen nicht. Ihr Job ist gekündigt. Und auch, wenn Shopify Hilfe bei der Suche nach einer neuen Stelle bietet, Karrierecoachings ermöglichen und Unterstützung beim Lebenslauf und Co. geben will und den ehemaligen Mitarbeitern zum Teil sogar die Home-Office-Möbel überlässt – ihr Job bei Shopify ist dennoch gekündigt. Und trotzdem setzt das Unternehmen mit Aussagen wie diesen einen angenehmen Akzent in einer von „Hire and Fire“ geprägten Arbeitswelt.
Shopify gehört auch weiter zu den Großen
Doch zurück zum eigentlichen Thema: Denn es bleibt die Frage, was der Kurseinbruch der letzten Monate bedeutet? Ist die Idee hinter Shopify damit gescheitert? Oder waren die letzten zwei Jahre einfach eine außergewöhnliche Phase?
Fakt ist: Verglichen mit den Jahren vor Corona wächst Shopify auch heute – nur eben wieder etwas langsamer. Man könnte auch sagen, dass das Unternehmen in der neuen Realität angekommen ist. Die Pandemie hat Shopify einen enormen Boom verschafft. In einer Erhebung von W3Techs von Mitte August 2022 hat sich Shopify, was den Marktanteil unter den Content Management Systemen angeht, von einem geteilten Platz 4/5 im Jahr 2019 auf Platz 2 hinter dem Allzeit-Primus WordPress vorgearbeitet. Und die Online Marketing Rockstars, kurz OMR, zählten Shopify schon 2021 zu den Top-7-Shop-Software-Anbietern.
Auch ein langsameres Wachstum ist Wachstum
Man kann also durchaus davon ausgehen, dass der Boom der letzten zwei Jahre tatsächlich ein besonderes Ereignis war und das Wachstum von Shopify nun schlicht auf ein normales Niveau zurückgekehrt ist. 16 % betrug es beispielsweise im zweiten Quartal 2022 im Jahresvergleich. Während einige bei Wachstumszahlen in dieser Größenordnung die Sektkorken knallen lassen, ist es für Shopify ein eher kleiner Wert – und damit ein Zeichen, dass sich das Wachstum des Anbieters verlangsamt. Darüber zumindest sind sich verschiedene Fachportale wie www.fool.com oder www.it-times.de einig.
Dass die Anleger, die von Shopify bisher von Traum-Wachstumsraten verwöhnt wurden, bei einer Verlangsamung der Entwicklung nun so reagieren, dass der Kurs derart abstürzt, rückt das, was Shopify in den letzten Jahren erreicht hat, in ein Licht, das die Plattform eigentlich nicht verdient hat. Denn was trotz aller Turbulenzen an der Börse nicht vergessen werden darf, ist: Auch ein langsames Wachstum ist noch immer ein Wachstum.
Ist der Erfolg Shopify zu Kopf gestiegen?
Gleichwohl: Aufpassen sollte Shopify trotzdem, denn der Erfolg der letzten zwei Jahre hat das Unternehmen auch verändert. So wird der Softwareschmiede – das bemerke ich in meinen Gesprächen immer öfter – auch eine gewisse Überheblichkeit attestiert, und die tut bekanntlich niemandem gut. Sie wissen schon, das mit dem Hochmut und dem Fall.
Richtig ist, dass Tobias Lütke die Alarmsignale erkannt und rechtzeitig nachjustiert hat. Denn Anpassungsfähigkeit – ein wichtiger Faktor für den Unternehmenserfolg – bedeutet eben nicht nur, vielversprechende Markttrends aufzunehmen, sondern auch Fehleinschätzungen zu korrigieren. Und ja, das kann schmerzhaft sein. Aber auch heilsam. In jedem Fall sollte sie zum Ziel haben, eine gesunde, tragfähige Ausgangsbasis für neues Wachstum zu schaffen.
